Zwischen Schwellenland und Hochmoderne

Je mehr Zeit man in dem Rätsel namens Chile verbringt, um so klarer wird einem der Zwiespalt in dem dieses Land steckt. Nicht feststeckt, ganz im Gegenteil, sondern durch die Dynamik seiner Bewegung es nicht schafft sich am Stück zu bewegen. Keine hundert Meter auseinander stehen wellblechüberdachte Gebrauchtautoteilehändler und hochmoderne Shoppingmalls mit  Importen aus allen Ländern. Überladene pedalbetriebene Transportdreiräder mit Waren für die Wellblechläden teilen sich die Straßen mit einem effizienten, pünktlichen, sauberen und sicheren Fernbussystem, das in seiner Kosten-Nutzen-Bilanz in Europa eines Gleichen sucht. Und dann wieder: Bushaltestellen mitten auf der Autobahn. Zusammengeschusterte Hütten, die kaum als Heim bezeichnet werden sollten, dienen ebenso als Zuhause wie erdbebensichere Hochhäuser mit Concierge. Wunderschöne, gewachsene Stadtviertel stehen hecktargroßen Einheitswohnsiedlungen im Ghettostil gegenüber. Supermercados, die kaum mehr als ein Regal haben, behaupten sich gegen Lebensmittelriesen, wie man sie als Europäer noch am ehesten von den französischen Carrefours kennt. Die Umwelt und die Einstellung zu dieser hat dem Konsumverhalten nichts entgegen zu setzen, und doch verkauft Coca-Cola zunehmends Mehrwegflaschen und biologisch abbaubare Einwegflaschen. Unzählige Schilder in den Nationalparks weisen auf das Schutzbedürfnis der Natur hin und die Notwendigkeit den eigenen Müll wieder herauszutragen, während ganze Landstriche oder Seitenstraßen als jedermanns Müllhalde dienen. Erdbebenbeschädigte Gebäude werden zwar gesperrt, aber diese stehen noch Jahre nach dem Ereignis in der Stadtmitte unverändert herum. Nahverkehrsbusse, sofern es sie denn gibt, rosten bis auf den Motorblock durch und werden dennoch nach einer zweistündigen Fahrt ausgefegt, wo nötig gewischt, der Müll eingesammelt, und der Busbegleiter kassiert nicht nur, sondern hilft beim Ein- und Aussteigen, trägt das Gepäck hinterher und fegt auch noch mal zwischendurch, falls er dies für notwendig hält – und das tut er. Taxifahrer interessieren sich für die Touristen und deren Reiserouten und bemühen sich Tipps zu geben kurz bevor sie einen völlig überhöhten Fahrpreis durchzusetzen versuchen. Collectivos fahren als Taxis auf festen Routen effizient und flexibel kreuz und quer durch die Stadt, doch einen öffentlich zugänglichen Plan des Routenverlaufs sucht der Fremde vergeblich.

Und dies ist alles nur der Anfang, die Aufzählung der Gegensätze und Kuriositäten könnte man endlos fortsetzen. Die Grundsituation ist in Argentinien nicht anders, stellt man nun retrospektiv fest, doch scheint das Tempo der Veränderung in Chile so groß zu sein, dass die entstandenen Risse noch dramatischer wirken.

Auf der einen Seite wünscht man sich in sein sauberes, steriles, geregeltes und so viel einfacheres Deutschland zurück (nach der Reise natürlich) und doch, irgendwie, verliebt man sich ein wenig in dieses System, das keins zu haben scheint. Viva Chile! Viva Argentina!

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