Varanasi

20111023.173229.IMG_8077Nach einer ganztägigen Busfahrt, die uns ausgesaugt vor die Altstadt von Varanasi spuckte, stolperten wir über Müllberge und Scheißhaufen kreuz und quer durch die engen Gassen und beteten, dass wir die Stadt auf einem falschen Fuß erwischt hatten. Wir schliefen wie Steine und blickten am nächsten Morgen von der Dachterrasse unseres Hostels über den Ganges, ein Meer von einem Fluss im indischen Morgendunst, das andere Ufer nur zu erahnen. Mit der Sonne kommt das Licht und mit dem Licht das Leben dachten wir und schauten hoffnungsvoll auf die Stadt bei Pfannkuchen, Masala-Tee und frischem Orangensaft. Doch was wir in nächsten Tagen entdecken würden, am Ufer des heiligen Wassers und in den drückenden Gassen der Altstadt, war nicht eine lebendige Metropole, sondern die Stadt des Todes.

Uttar Pradesh, India

Am Morgen hatten wir uns gestärkt und gingen, noch leicht verängstigt von den Gerüchen und Anblicken, die uns Stunden zuvor überwältigt hatten, mit naivem Optimismus durch das Tor der Oase, in der wir wohnten. Außerhalb der rein touristischen Sphären, in denen findige europäische aber auch einheimische Geschäftleute ruhige und saubere Orte der Entspannung eingerichtet haben, fanden wir das, was Varanasi ausmacht.

Die Altstadt ist ein Labyrinth. Die Wege sind schmal, an manchen Stellen gerade breit genug für einen Menschen. Die Begrenzungen sind Wände, hoch und rau; Läden, klein und eng; Lokale, heiß und duftend; Kühe, groß und bedrohlich; Hunde, krank und verwahrlost; Müllhaufen, verrottend und brennend; offenes Abwasser, plätschernd und fließend; Fäkalien aller Art, stinkend und stinkend und stinkend.

Durch diesen Irrgarten taumelten wir, geschockt von der Armut derer, die ihren Platz in der Gesellschaft als Unberührbare oder zumindest als die Ärmsten der Armen angenommen haben und sich dem endlosen Elend hingeben. Sie schlafen halb nackt in jeder Nische zwischen den Wänden, Läden, Hunden und Fäkalien. Dabei scheinen sie für jene, die ein anderes Schicksaal getroffen hat, gar nicht zu existieren, im besten Fall sind sie Entsorgungsstation für die Einrupienmünzen. Vor den Tempeln, die überall in der Stadt verteilt sind und häufig nur einen kargen Hinterraum mit einem Altar darstellen, häufen sich jene, die ihre Wunden und Verstümmelungen zur Schau stellen und sich so eine größere Almose erhoffen. Darunter auch die Leprakranken, entstellt durch Hautwucherungen, offene Wunden und deformierte Gliedmaßen.

Jene, die eine Beschäftigung haben in all dem Chaos, eilen durch die Gassen, zu Fuß, auf dem Fahrrad oder auf dem Motorrad. Es ist ein Gedränge, ein Geschubse, ein ohrenbetäubendes Gehupe, der stärkere fordert sein Vorrang. Auf 60 cm passen sehr wohl eine Kuh und ein Fußgänger, oder eine Laterne, ein daran abgestelltes Fahrrad, ein Fußgänger und ein Motorrad. Was physikalisch passt, ist geduldet und normal, häufig berühren sich Motorrad und Fußgänger, Fahrrad und Kuh; solange kein Schaden zu sehen ist, gibt es keinen Grund sich zu beschweren, und ist einer zu sehen, gibt es Keinen den es kümmert. Gelächelt wird hier nicht, an Lachen ist nicht zu denken, der Frohsinn ist tot in diesen Gassen, ebenso wie die Leichen auf Bambustragen, die im Minutentakt vorbeiziehen.

Wo die engen Gassen enden, fließt Wasser oder Verkehr. Auf der einen Seite der Altstadt befindet sich der heilige Ganges, eine unüberschaubare Kraft. Die Kraft hat in der Regenzeit Schlamm, Schutt und Müll auf die Treppen des Ufers gespült, meterhoch. Die Kraft zeigt sich auch in der Größe, das andere Ufer ist auch in der Trockenzeit nicht immer sicher zu erkennen. Diese Kraft beansprucht der Hindu für sich, ein Bad soll heilen von Krankheiten, befreien von Sünden und somit das Karma verbessern, auch nach dem Tod. Und so werden die Leichen nach der Prozession durch die Altstadt und einem Bad im Ganges auf ausgewählten Treppen zum Fluss, den so genannten Ghats, auf Scheiterhaufen gelegt und verbrannt. Nachdem die Familie das Holz gekauft, die geschmückte Leiche gebadet und sie mit einem speziellen Ritual bedacht hat, gibt es nicht etwa eine ruhige Stelle am Fluss, wo die Freiluftkremation statt finden kann, sondern der Scheiterhaufen wird zwischen Schlammentfernungsarbeiten, Müllbergen, kämpfenden Hunden und badenden Kühen aufgebaut und angezündet. Die Asche und letzen Knochen landen im Fluss. Die religiösen Rituale werden penibel befolgt, doch das Umfeld in dem dies passiert, scheint nicht zu interessieren. Wichtig ist nur, dass die Verbrennung am Ganges die Chancen auf eine erstrebenswertere Wiedergeburt erhöht – die letzte Ehre in würdevollem Ambiente zu erweisen, ist (für uns) etwas anderes.

Das Ufer ist lang und im Alltag nicht nur Wirkungsstätte des Heiligen sondern auch des Praktischen. Wenige Meter von denjenigen entfernt, die unter Anleitung eines Heiligen ihre Sünden von sich waschen, wäscht der Arbeiter sein Körper, die Hausfrau ihre Wäsche und der Bauer sein Vieh. Das heilige Wasser kann keinen Schaden nehmen, durch das Schrubben von Kühen und so dient das gleiche Wasser stromabwärts dem Zähneputzen.

Auf der anderen Seite der Altstadt rollt eine Blechkaravane aus Rikschas, Fahrrädern, Motorrädern und wenigen Autos. Das Hupen nimmt kein Ende, es wird gerast, auf einander zu, verjagt und verdrängt. Und dazwischen, die Fußgänger, in Ihrer Anzahl weit überlegen, doch als die Schwächsten, immer die Ersten, die zur Seite springen. Wer es nicht tut, könnte die nächste Leiche am Fluss sein.

Und inmitten all diesen abstoßenden Momenten, erblickt man Bauwerke, die an bessere Zeiten erinnern, verkaufen Händler prachtvolle Stoffe und Blumen, Kerzen erhellen dunkle Ecken, Affen spazieren über Dächer, das Morgenlicht zaubert friedliche Farben auf die Fassaden, Gottesdienste berühren die Menschen und geben ihnen Kraft, Restaurants servieren rätselhafte Köstlichkeiten und mit viel Mühe, erhält man manchmal auch ein Lächeln.

In Varanasi ist der Tod allgegenwärtig, und so fällt leben in Varanasi schwer. Die Gesichter der Menschen sagen, es ist fast unerträglich schwer, und genau so schwer fällt ihnen das Lächeln. Wir wollen wieder lächeln, und ziehen weiter.

(Dass bei den meisten Bildern eine so positive Grundstimmung entsteht, kann nur an unserem photographischen Unvermögen liegen. Wir bitten dies zu entschuldigen.)

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